Sonntag, 8. Juli 2012

Groß-ART-iges in Grahamstown


Hey ihr Lieben,
nur noch fünf Wochen bis zum Ende dieses zweiten Terms, bis ich im Flieger nach Hause sitze und nach 7 Monaten Afrika meine Familie und Freunde endlich wieder sehe. Ist das Heimweh größer, als ich erwartet hatte? Nein, ist es nicht, aber ich weiß nun definitiv wie es sich anfühlt. An manchen Tagen denke ich immer wieder an die schönen Seiten meines alten Lebens, die gemeinsamen Film- und Spielabende mit meinem Bruder Johannes, Radeln an die Seen mit meinem Vater und die Fürsorge meiner Mutter, die meine Vorfreude im Januar bewundernswert geteilt hat, auch wenn der Abschied schwer fiel. Es ist leicht, in eine nachdenkliche, etwas traurige Stimmung zu verfallen, wenn diese Gedanken überhand nehmen, doch auch leicht den Weg zurück in die Gegenwart zu finden. Der Weg führt hinaus aus meinem Zimmer, 2 Schritte nach rechts und in das Zimmer meines Freundes, Tuure, aus Finnland, oder einen Korridor weiter, wo Eyuel wohnt, ein mittlerweile guter Freund aus Äthiopien, der momentan auf der Suche nach seiner Lebenseinstellung ist und mit dem ich schon sehr interessante Gespräche geführt habe. Eyuel wurde streng religiös erzogen, und trifft hier auf eine völlig neue Welt. Bis zur Heirat sind für ihn selbst Gedanken an ein Mädchen nicht richtig, was in einem krassen Widerspruch steht, zu der Meinung der meisten Bewohner hier im Boy’s Hostel. Wir haben beide sehr ähnliche Interessen, denken über ein Medizinstudium nach und lieben Biologie. 
Ich habe meinen Platz nun gefunden in der Waterford-Community, bin mit wenigen sehr gut, mit vielen gut befreundet. Es gibt jedoch niemanden, mit dem ich überhaupt nicht klarkomme. 
Traditionen bilden sich über die Monate, sei es der gemeinsame Filmabend am Donnerstag mit Jakob und Rohaan, das Roggenbrot Backen mit anschließendem genüsslichem Verzehr mit Roderik und Rüdiger (Südafrika), interkulturelle Diskussionen mit Nelson aus Lesotho oder Lernen in der Sonne jeden Dienstag vor einer Doppelstunde Spanisch mit Agathe aus Frankreich. Ich genieße es! 
Diese Atmosphäre hier, gefüllt mit Vertrauen, Kreativität, Engagement, Respekt, Lernfreude, Freundschaft, Anerkennung und Optimismus ist wohl nur in ganz wenigen Gemeinschaften auf dieser Erde zu finden. Das ist es, was UWC so einmalig und wertvoll macht. 

So. Was ist passiert in den letzten fünf Wochen, in denen dieser Blog von mir so unrühmlich vernachlässigt wurde? 

Das größte Ereignis war sicherlich der einwöchige Trip nach Grahamstown, einer Stadt im Südosten Südafrikas, nicht weit entfernt von der Küste, in der das alljährliche nationale Kunstfestival stattfand. Mit ca. 30 Schülern starteten wir vor zwei Wochen mit einem Reisebus, der uns zwei Tage lang durch die weite trockene Landschaft Südafrikas trug, eine Zwischenübernachtung auf dem Weg in einem Backpackers inklusive. In Grahamstown durfte jeder Schüler ein kleines Einzelzimmer auf dem Campus der dortigen Uni beziehen und war danach frei, seine Tage selbst einzuteilen und mit Tanzauftritten, Konzerten und Theaterstücken, sowie Ausstellungsbesuchen zu füllen. Da ich am Ticketstand realisierte, dass einige Vorstellungen bereits ausverkauft waren, beschloss ich meine drei verfügbaren Tage in Grahamstown voll durchzuplanen und alle notwendigen Karten schon im Voraus zu kaufen. Es war ein wunderbarer Mix, bestehend aus etwa 15 Vorstellungen, den ich mir da zusammengestellt hatte. 
Einige Highlights:

Hypnagogia: 
Eine ganz besondere Tanzperformance, aufgeführt und choreographiert von drei Waterfordschülern. Es ging um die Rolle der Frau und ihre Beziehung zum Mann in Kindheit, Jugend und im erwachsenen Alter. Inspiriert von Choreographien  Pina Bausch’s, schafften es unsere Schüler tiefe Gefühle, insbesondere in weiblichen Zuschauern zu wecken; einige verließen den Raum mit Tränen in den Augen. 

Das Symphonie-Konzert des südafrikanischen KwaZulu-Natal Philharmonic Orchestras:
Hier lehnte ich mich zurück und ließ die verschiedenen Eindrücke des Tages zur Musik von Saint-Saens und Paul Dukas an meinem inneren Auge vorbeiziehen. Mir fiel auf, dass im Orchester der so vielfältigen “Rainbow nation” etwa 90 % aller Musiker weißer Hautfarbe waren. Musik als Studienfach ist für die meisten farbigen afrikanischen 
Eltern eben noch nicht anerkannt und werden mit Straßenkünstlern assoziiert, was auch hier auf dem College zu sehen ist. Während die Fächer Kunst, Musik und Theater mit wenigen Ausnahmen, von Weißen belegt werden, gehöre ich einer extremen Minderheit in Wirtschaft an. 

I love you, when you’re breathing:
Hier ging es um eine menschengroße Puppe, die von drei Männern gleichzeitig bedient wurde und uns von ihrem doch sehr schwierigen Dasein als gesteuertes Etwas erzählte. Obwohl man die Männer, die jeweils einen Arm oder den Kopf bedienten, sehen konnte, überzeugten die realen Bewegungen, das Auf- und Absenken der Brust als Atmung und die Übereinstimmung von Gestik und Sprache so sehr, dass man das Geschöpf am Ende als lebendiges Individuum betrachtete. 

Exhibit A: 
Diese Ausstellung war wohl einer der eindrücklichsten Momente im Laufe meiner Zeit hier in Afrika. Ich hatte von meinen Mitschülern erfahren, das keiner diese Erfahrung verpassen sollte und setzte mich mit keiner Vorahnung in den Besucherraum, in dem schon andere, ausschließlich weiße Menschen saßen. Jeder bekam ein Nummer, wurde der Reihe nach aufgerufen mit einem Abstand von etwa 5 Minuten und begab sich in das dunkel gehaltene Haupthaus. Beim Betreten des ersten Raumes vielen mir sofort afrikanische Kunstgegenstände und zwei menschliche Puppen schwarzer Hautfarbe, mit Bastrock bekleidet, ins Auge, die alle mit einem Nummernschild versehen waren, wie man es von Naturkundemuseen gewohnt ist. Ich bekam einen Schreck, als sich mein Blick nach oben mit den Blicken der vermeintlichen Puppen traf. Ich befand mich in einem Ausstellungsraum des 19. Jahrhunderts, als “primitive Afrikaner” in Deutschland öffentlich zur Schau gestellt wurden. Wer den Film “Neger, Neger Schornsteinfeger” gesehen hat, kann sich an die Szene im Zoo vielleicht noch erinnern. Die Szenerie berührte mich sehr. Ich lernte die Kolonialgeschichte hier nicht durch Photos und Quellen näher kennen, sondern erlebte sie, reiste zurück in die Zeit der Gräueltaten und sah die Gesichter, voll von Hoffnungslosigkeit und Vorwürfen. Das Gesicht einer halbnackten Afrikanerin in einem Spiegel, an ein Bett gekettet mit dem Rücken zu mir, das Gesicht einer Frau, die einen menschlichen Schädel in der Hand hielt. Sie hatte die Aufgabe die Köpfe der getöteten Sklaven mit Glasscherben von Fleisch zu reinigen. Nach etwa sieben Räumen, die sich alle mit der Kolonialzeit beschäftigten und die den Satz “Gott sei Dank ist heute alles anders!” im Kopf der meisten weißen Besucher entstehen ließen, blickte ich auf einen Mann, gefesselt in Flugzeugsitz, Mund und Nase zugetaped. Eine Informationstafel sagte mir, dass jedes Jahr Flüchtlinge beim Transport umkommen, die von Grenzbehörden nicht menschenwürdig behandelt werden und dann, wie hier dargestellt, zum Beispiel an Erstickung sterben. Ich musste danach sehr lange über dieses Bild nachdenken. Wenn wir einen Flüchtling sehen, betrachten wir ihn als vollwertigen Menschen? Berührt uns Europäer der Tod eines schwarzen Afrikaners in Europa in dem selben Ausmaß, wie die Ermordung eines englischen Journalisten in Somalia? Es fällt uns leichter mit der Familie des Journalisten mitzufühlen, an seine Kinder zu denken, die jetzt keinen Vater mehr haben, als an die Frau und die Kinder des Flüchtlings, die immer noch auf ein Lebenszeichen warten und auf Geld aus dem gelobten Land, aus Europa.  
Der folgende Link sollte zu Informationen und Bildern zu Exhibit A führen:
http://www.thirdworldbunfight.co.za/productions/exhibit-a,-b,-&-c.html
Ich kann ihn leider nicht aufrufen, da das Internet zu langsam ist. Mittlerweile existieren auch schon die nachfolgenden Ausstellungen Exhibit B und C, die anscheinend durch Europa touren. Solltest du, lieber Leser, die Möglichkeit eine zu sehen, kann ich das nur schwer empfehlen.


Die Photos sind von folgender Website: http://www.die-junge-buehne.de/blog/tag/exhibit-a/

Neben diesen vier persönlichen Highlights besuchte ich auch drei Jazzkonzerte, vier Theaterstücke einige Tanzperformances, und die beste Pantomime Clownshow, die ich je gesehen habe. Außerdem lernte ich eine sehr nette ältere Photokünstlerin kennen, die mich zu ihrem Haus nach Queens Town einlud. Mal schauen ob ich das Angebot irgendwann annehmen kann. 
So viel mal zu Grahamstown und einem Artfestival, das mich in Gedanken immer noch beschäftigt und dem ich im Laufe meines Lebens vielleicht noch öfter beiwohnen werde. 

Die Zeit war gekommen! Endlich. Frau Otto von meiner Lieblingszeitung “DIE ZEIT” besuchte Waterford vergangene Woche für drei Tage und lebte praktisch mit uns. Sie interviewte alle deutschen Schüler, sowie, wie es schien, hundert weitere Waterfordians. Sie besuchte meine Tangoklasse, setzte sich in unsere TOK-Stunde und war eigentlich ständig irgendwo zu sehen. Ein Photograph aus Johannesburg knipste mindestens tausend Photos und lieferte den visuellen Aspekt des, hoffentlich langen ZEIT-Artikels, der vielleicht schon nächsten Donnerstag oder den Donnerstag darauf erscheinen sollte. Wenn ihr in einer Woche am Zeitungskiosk vorbeischaut, werft einfach mal einen Blick auf das Inhaltsverzeichnis auf Seite 12 und sucht nach “UWC”, wahrscheinlich unter der Rubrik “Chancen”. Ich denke, dass UWC Deutschland mit diesem Artikel einen großen Schritt in Sachen Bekanntheit machen kann und hoffe, dass die Bewerberzahlen nächsten Winter steigen werden, auch im Hinblick auf die deutsche Collegeeröffnung in Freiburg 2014. 

Wenn Du als Leser dich für einen UWC-Platz bewerben willst und Fragen in Bezug auf Waterford Kamhlaba oder den Bewerbungsprozess hast, kannst Du mir gerne deine Freundschaft auf Skype anbieten: Mein Name dort: Julian Storrch
Ich freue mich immer über interessierte Zuhörer!

Nun hast Du es auch schon fast durch diesen Monsterartikel geschafft. Es tut mir Leid, dass ich so selten schreibe und ich weiß, dass viele kurze Blogeinträge das Lesen erleichtern würden, aber so bin ich nun mal. 

Noch eine kleine Bitte: Ich schreibe momentan eine wichtige Englischarbeit, called “written Task 1” mit dem Thema “representation of ethnicities in Literature”. Mein Focus liegt auf der sehr einseitigen Darstellung Afrikas in westlichen Medien und das resultierende Bild von Afrika das wir Europäer dadurch haben. Wenn Du irgendwelche Ideen hast, vielleicht schon einmal in Afrika warst und überrascht wurdest oder aktuelle Artikel gelesen hast, die beschreiben, wie arm, rückständig oder gefährlich Afrika ist schicke mir eine Mail an julianstorch@aol.de  und helfe mir bei meiner Arbeit. 
Ich hoffe ihr genießt alle den Sommer, an alle Coyears: macht das meiste aus euren großen Ferien! Ich werde hier noch den ganzen Abend sitzen und an Essays arbeiten :(
Liebe Grüße,
Julian